(ip/RVR) Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen, bei der es sich um Verletzung der Garantie rechtlichen Gehörs gem. Art. 103 Abs. 1 GG im Falle des vermeintlichen Bestehens von Suizidgefahr der Schuldnerin im Zusammenhang mit Zwangsversteigerung eines Wohnhauses handelt.

Die Beschwerdeführerin war Eigentümerin eines mit einem Einfamilienwohnhaus und zwei Doppelgaragen bebauten Grundstücks. Die Gläubigerin hatte die Zwangsversteigerung des Grundstücks beantragt, woraufhin das Amtsgericht den Versteigerungstermin auf den 15. Oktober 2010 bestimmt hatte.

Mit Schriftsatz vom 6. Oktober 2010 hat die Beschwerdeführerin gem. § 765a ZPO die Einstellung der Zwangsversteigerung beantragt. Zur Begründung führte sie aus, dass sie sich wegen des Zwangsversteigerungsverfahrens und des Versteigerungstermins in einer schweren Depression mit Selbstmordgefahr befinde. Zum Beleg hat sie eine Bescheinigung der sie behandelnden Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie vorgelegt.

Im Versteigerungstermin vom 15. Oktober 2010 gab es einen Meistbietenden. Über die Erteilung des Zuschlags wurde im Versteigerungstermin jedoch nicht entschieden. Das Amtsgericht bestimmte vielmehr den Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 10. November 2010.

Mit Beschluss vom 15. Oktober 2010 regte das Amtsgericht (Vollstreckungsgericht) gegenüber dem Landratsamt und dem Amtsgericht (Betreuungsgericht) die Unterbringung der Beschwerdeführerin an, da eine Gefährdung für Leib und Leben der Beschwerdeführerin durch Suizid im Falle der Zuschlagserteilung nicht ausgeschlossen werden konnte. Die Zwangsvollstreckung werde jedoch fortzusetzen sein, so das Vollstreckungsgericht, wenn die für den Lebensschutz primär zuständigen Stellen Maßnahmen zum Schutz der Beschwerdeführerin nicht für notwendig erachteten.

Am 2. November 2010 führte eine beim Landratsamt (Gesundheitsamt) tätige Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie (Amtsärztin) einen Hausbesuch bei der Beschwerdeführerin durch. Mit Schreiben vom 8. November 2010 teilte sie dem Landratsamt (Ordnungsamt) mit, dass es sich zum Untersuchungszeitpunkt kein Anhalt für aktuelle Suizidalität fand, so dass die Bedingungen für die Unterbringung der Beschwerdeführerin gegen ihren Willen in einer psychiatrischen Klinik nicht erfüllt sind. Daraufhin sah das Landratsamt (Ordnungsamt) von einem Antrag auf Unterbringung der Beschwerdeführerin ab, stellte das Verwaltungsverfahren ein und setzte das Amtsgericht (Vollstreckungsgericht) hiervon in Kenntnis.

Das Amtsgericht (Betreuungsgericht) teilte dem Amtsgericht (Vollstreckungsgericht) Folgendes mit: „... auf Ihre Anregung zur Einrichtung einer Betreuung und Unterbringung der Betroffenen hat die zuständige Betreuungsbehörde den Sachverhalt ermittelt und insbesondere ein ausführliches Gespräch mit der Betroffenen geführt. Die Betroffene hat angegeben, ab dem 15.11.2010 eine Behandlung in der Tagesklinik des SKH Arnsdorf aufnehmen zu wollen. Die Klinik ist von mir angeschrieben worden. Für den Fall, dass die Betroffene die Behandlung am 15.11.2010 aufnimmt, beabsichtige ich, das hiesige Verfahren einzustellen.“

Ohne über die oben genannten Ereignisse der Beschwerdeführerin vorher mitzuteilen, verkündete das Amtsgericht (Vollstreckungsgericht) am 10. November 2010 den Zuschlagsbeschluss. Darin erteilte es dem Meistbietenden den Zuschlag. Gegen diesen Zuschlagsbeschluss erhob die Beschwerdeführerin sofortige Beschwerde. Diese wurde mit angegriffenem Beschluss vom 5. Januar 2011 vom Landgericht abgewiesen. Zur Begründung wies das Landgericht unter anderem darauf hin, dass sowohl das Amtsgericht (Betreuungsgericht) als auch das Landratsamt es nicht für notwendig erachtet hätten, weitere Maßnahmen zum Schutze des Lebens der Beschwerdeführerin zu ergreifen.

Gegen den Beschluss des Landgerichts erhob die Beschwerdeführerin Gehörsrüge, die sie dadurch begründete, dass das Gericht ihren im Beschwerdeverfahren unterbreiteten Sachvortrag, dass sich die Suizidgefahr nach Verkündung des Zuschlagsbeschlusses noch verstärkt und verdichtet habe, vollkommen übergangen und ihr diesbezügliches Beweisangebot – Einholung eines Sachverständigengutachtens – ohne Gründe unberücksichtigt gelassen habe. Zudem habe das Gericht ihr Vorbringen, eine ordnungsgemäße Untersuchung und Diagnosestellung habe nicht stattgefunden, sondern nur ein kurzes Gespräch mit der Amtsärztin, und das entsprechende Beweisangebot – Zeugnis ihres Ehemannes – übergangen. Außerdem habe das Gericht im Beschluss vom 5. Januar 2011 den Sachvortrag mit keinem Wort erwähnt, dass die Amtsärztin sie beim Hausbesuch aufgefordert habe, die Klinik in Arnsdorf freiwillig aufzusuchen, andernfalls sie sie zwangsweise einweisen werde. Die Aussage stehe diametral dem Inhalt der Stellungnahme der Amtsärztin vom 8. November 2010 entgegen. Schließlich habe das Gericht auch das weitere Beschwerdevorbringen zur Nichtaufnahme – wegen Platzmangels – in die Klinik in Arnsdorf am 15. November 2010 übergangen.

Mit angegriffenem Beschluss vom 8. Februar 2011 wurde die Gehörsrüge durch das Landgericht zurückgewiesen.

Die Beschwerdeführerin erhob Verfassungsbeschwerde, mit der sie geltend macht, in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt zu sein. Darüber hinaus liege eine Verletzung weiterer Grundrechte und grundrechtsgleicher Rechte der Beschwerdeführerin vor, insbesondere aus Art. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr insoweit statt, soweit sie sich gegen die Beschlüsse des Landgerichts vom 5. Januar 2011 und 8. Februar 2011 richtet. „Das Landgericht hat die Beschwerdeführerin durch die vorgenannten Beschlüsse in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, indem es zu dem Ergebnis gelangte, dass bei ihr keine Suizidgefahr bestehe, die eine (einstweilige) Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens unter Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses rechtfertige, ohne zuvor ein von ihr zum Nachweis der Behauptung, dass bei ihr im Falle des endgültigen Verlusts des Eigentums an Haus und Grundstück durch das Zwangsversteigerungsverfahren eine konkrete, durch flankierende Maßnahmen nicht zu beseitigende Suizidgefahr gegeben sei, beantragtes medizinisches Sachverständigengutachten zu erheben.“

Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich, dass der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör das Gericht verpflichtet, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. „Ein vom Bundesverfassungsgericht festzustellender Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG liegt vor, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen wurde (vgl. BVerfGE 65, 293 <295 f.>; 70, 288 <293>; 86, 133 <145 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Januar 2011 - 1 BvR 2441/10 -, juris, Rn.10).“ Ein solcher Fall liegt hier vor, denn die Frage, ob die Beschwerdeführerin bei einem endgültigen Verlust des Eigentums an Haus und Grundstück im Zwangsversteigerungsverfahren konkret suizidgefährdet ist, war entscheidungserheblich.

Die Beschwerdeführerin hat substantiiert vorgetragen und beantragt, so das BVerfG, durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens Beweis darüber zu erheben, dass sie bei einem endgültigen Verlust des Eigentums an Haus und Grundstück im Zwangsversteigerungsverfahren konkret suizidgefährdet sei und dieser Gefahr auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsversteigerung nicht wirksam begegnet werden könne. „Bestehen, wie hier, hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme einer konkreten Suizidgefahr, ist das Gericht – da es die Ernsthaftigkeit dieser Gefahr mangels eigener medizinischer Sachkunde ohne sachverständige Hilfe in aller Regel nicht beurteilen kann – regelmäßig gehalten, einem Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zu entsprechen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 2. Dezember 2010, a.a.O.; vom 17. Februar 2011, a.a.O. und vom 31. März 2011, a.a.O., Rn. 18).“

Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ergibt sich, dass soweit es um Fragen der Beweisaufnahme geht, sind Zwangsversteigerungsverfahren nach der Zivilprozessordnung durchzuführen. Somit ist im vorliegenden Fall auch § 411a ZPO zu beachten, der bestimmt, dass die schriftliche Begutachtung durch einen Sachverständigen durch die Verwertung eines gerichtlich oder staatsanwaltschaftlich eingeholten Sachverständigengutachtens aus einem anderen Verfahren ersetzt werden kann. Bei dem Schreiben der Amtsärztin vom 8. November 2010 handelt es sich bereits nicht um ein Sachverständigengutachten im Sinne des § 411a ZPO, sondern lediglich um ein amtsärztliches Zeugnis. „Ein solches in einem anderen Verfahren erteiltes Zeugnis reicht nicht aus, um von der Einholung eines Sachverständigengutachtens in einem nach der Zivilprozessordnung durchzuführenden Verfahren zu dispensieren (vgl. Zimmermann, ZPO, 9. Aufl. 2011, § 411a Rn. 2; ders., in: MünchKomm-ZPO, 3. Aufl. 2008, § 411a Rn. 3; jeweils zu ärztlichen Zeugnissen).“ Darüber hinaus waren die Voraussetzungen des § 411a ZPO nicht erfüllt, so das BVerfG, weil die Amtsärztin weder gerichtlich noch staatsanwaltschaftlich beauftragt war. Ihr Zeugnis enthält keine fundierte Prognose der Gefährdungslage für den Zeitpunkt des endgültigen Eigentumsverlusts durch den Eintritt der Rechtskraft des Zuschlagsbeschlusses. Darüber hinaus berücksichtigt es naturgemäß (da vor Verkündung des Zuschlagsbeschlusses erteilt) nicht das erst im Beschwerdeverfahren erfolgte Vorbringen der Beschwerdeführerin, dass sich die Suizidgefahr nach Verkündung des Zuschlagsbeschlusses noch verstärkt und verdichtet habe.

An der Pflicht des Landgerichts zur Erhebung des beantragten Sachverständigenbeweises ändert nichts, so das BVerfG, dass das Amtsgericht (Vollstreckungsgericht) gegenüber dem Landratsamt und dem Amtsgericht (Betreuungsgericht) die Unterbringung der Beschwerdeführerin angeregt hatte, denn dadurch wurden weder Maßnahmen zum Schutz des Lebens der Beschwerdeführerin getroffen noch wurde eine erhebliche Suizidgefahr gerade für das diese Gefahr auslösende Moment nach sorgfältiger Prüfung abschließend verneint.

Der Umstand, dass die Beschwerdeführerin nicht in die Tagesklinik aufgenommen wurde, enthob das Landgericht auch nicht der Notwendigkeit, durch Einholung des beantragten medizinischen Sachverständigengutachtens in die Beweisaufnahme einzutreten.

Somit findet die Nichteinholung des beantragten Sachverständigengutachtens im Prozessrecht keine Stütze und verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG.

Die Beschlüsse des Landgerichts vom 5. Januar 2011 und vom 8. Februar 2011 werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen, ohne dass entschieden zu werden braucht, ob die Beschwerdeführerin auch noch in Grundrechten und/oder weiteren grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist.

BVerfG vom 26.10.2011, Az.: 2 BvR 320/11

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