(ip/pp) Inwieweit im Öffentlichen Baurecht der Verzicht auf die individuelle Ausübung von Nachbarrechten möglich ist, war Gegenstand eines aktuellen Urteils des Verwaltungsgerichts (VG) Neustadt. Der Kläger war Eigentümer eines Grundstücks, dass er im Wege eines Zwangsversteigerungsverfahrens mit Zuschlagsbeschluss erworben hatte, der Beigeladene Eigentümer des unmittelbar angrenzenden Grundstücks. Beide Grundstücke liegen im unbeplanten Innenbereich und sind mit Siedlungshäusern bebaut, die ebenso wie sämtliche Wohngebäude westlich grenzständig aneinander gebaut sind. Im rückwärtigen Bereich der benachbarten Grundstücke wurden vom Beklagten in der Vergangenheit teilweise Erweiterungen der Siedlungshäuser zugelassen, die ebenfalls grenzständig errichtet worden sind. Der Beigeladene hatte den Umbau und die Erweiterung seines Wohngebäudes beantragt: die Entfernung des rückwärtigen Nebengebäudes und die Errichtung einer nach hinten reichenden Erweiterung mit den Ausmaßen von ca. 6 x 11 Metern. Die Planung beinhaltete ferner grenzständig eine Garage mit Geräteraum. Auf den Bauplänen hatte der vormalige Miteigentümer des Grundstücks seine Zustimmung zu dem Bauvorhaben erklärt – dies aber nicht weiter fixiert.

So legte der Kläger nach Zuschlag des Eigentums Widerspruch gegen die Baugenehmigung ein und begehrte im Hinblick auf die bereits begonnenen Bauarbeiten zugleich den Erlass eines Baustopps. Zur Begründung führte er aus, aufgrund der Beschlagnahme des Grundstücks sei die von den Voreigentümern dem Beigeladenen erteilte Erlaubnis für eine Grenzbebauung unwirksam gewesen.

Dem widersprach das Verwaltungsgericht:
“1. Ein Verzicht auf materielle öffentlich-rechtliche Nachbarrechte ist zulässig, soweit es sich um Vergünstigungen im Individualinteresse handelt, über die der Nachbar verfügungsberechtigt ist. Zu diesen verzichtbaren Rechten gehören die aus nachbarschützenden Vorschriften des Baurechts folgenden Abwehrrechte des Nachbarn.
2. Die Unterschrift unter die zur Genehmigung gestellten Baupläne gilt als Zustimmung zu dem Bauvorhaben, auch wenn eine ausdrückliche Verzichtserklärung hinsichtlich etwaiger Nachbarrechte nicht abgegeben worden ist.

3. Der Verzicht auf ein materielles öffentlich-rechtliches Abwehrrecht stellt keine Verfügung über das beschlagnahmte Grundstück dar.

4. Mit dem Verzicht des Eigentümers auf öffentlich-rechtliche Abwehransprüche geht diese „Berechtigung aus dem Grundstücks“ unter. Wird das Eigentum an dem Grundstück übertragen, geht es ohne diese „Berechtigung“ auf den neuen Eigentümer über. Der Rechtsnachfolger tritt in die (geschmälerte) Rechtsposition ein. Der Eigentumswechsel an dem „nicht mehr berechtigten“ Grundstück führt nicht zum Wiederaufleben der öffentlich-rechtlichen Abwehransprüche.

5. Ein Nachbar verstößt gegen den auch im öffentlichen Recht geltenden und auch das nachbarliche Gegenseitigkeits- und Gemeinschaftsverhältnis beherrschenden Grundsatz von Treu und Glauben unter dem Gesichtspunkt des Verbots widersprüchlichen Verhaltens („venire contra factum proprium“), wenn er im Baugenehmigungsverfahren Einwendungen erhebt und Rechtsbehelfe einlegt, obwohl er sich privatrechtlich mit dem Vorhaben einverstanden erklärt hat.

6. Der gegenüber dem Bauherrn erklärte Verzicht auf die Einhaltung der verletzten öffentlich-rechtlichen Vorschrift bedarf keiner Schriftform; er kann vielmehr auch stillschweigend erfolgen.”

VG Neustadt, Az.: 4 K 571/08